Werft euer Vertrauen nicht weg!

(Predigt zu Hebräer 10, 32 – 36)

Ausgangssituation der Hebräer:

Liebe Gemeinde,

diese Zeilen richten sich an Christen, die im Glauben müde geworden ist. Historisch gesehen befinden sich die Briefadressaten des Hebräerbriefes in der zweiten Hälfte des 1.Jhts. nach Christus. Es dürften bereits die ersten Christen-verfolgungen im Römischen Reich eingesetzt haben. Christen galten aus Sicht des Römischen Staates als illoyal, weil sie dem Kaiser die Verehrung als Gott verweigerten. In der Gesellschaft wurden sie als Außenseiter abgestempelt, weil sie an der Botschaft eines gekreuzigten Zimmermanns festhielten. An einer Botschaft, die vielen Leuten damals nur gerüchteweise und nur sehr bruchstückhaft bekannt war. Ganz offensichtlich war die christliche Gemeinde in äußerer Bedrängnis.

Zur äußeren Bedrängnis kam eine innere Bedrängnis dazu, nämlich Zweifel und bohrende Fragen:

Die Apostel, die ihnen das Evangelium gebracht hatten, haben verkündet, dass Jesus Christus bald wiederkommt. Jahr für Jahr vergeht, aber die Wiederkunft ist bis jetzt ausgeblieben.

Auch waren die Apostel der ersten Generation, die Jesus von Angesicht zu Angesicht gesehen und ihn begleitet hatten, überwiegend schon verstorben. Da gab es keinen mehr, den sie als Augenzeugen noch einmal befragen hätten können: Wie war denn das mit der Auferstehung? Habt ihr den Gekreuzigten tatsächlich zu Ostern als den Auferstandenen gesehen, habt ihr wirklich mit ihm gesprochen, mit ihm gegessen und Gemeinschaft gehabt?

Ja und überhaupt: Zahlt es sich aus, Christ zu bleiben oder sind die Kosten der Nachfolge zu hoch, wenn man Verfolgung und Außenseitertum in Kauf nehmen muss?

 

Parallelen zu unserem Gemeindeleben

Liebe Gemeinde, zumindest was die innere Müdigkeit angeht, ist uns die Gefühlssituation der Briefadressaten nicht so fremd.  Als Gemeinde sehen wir: Die Gesellschaft wird säkularer und multireligiöser und die Stimme des christlichen Glaubens in der Gesellschaft wird schwächer. Die überzeugten Christen werden weniger, die Gemeinden überaltern, die Mitglieder werden weniger. Das ist eine Entwicklung, die nicht unbedingt Mut macht und vielleicht – ähnlich wie in der Hebräergemeinde – zu Glaubensmüdigkeit führt.

Aber vielleicht gibt es noch weitere Umstände, die auf einer ganz persönlichen Ebene zu einer Glaubensmüdigkeit führen, Zweifel und Anfechtung verursachen.

Vielleicht sind es nicht erhörte Gebete. Man betet um Genesung von einer Krankheit, jahrelang – und die Gesundheit bleibt aus. Zurück bleibt die Frage: Bringt denn das Gebet etwas? Erhört Gott Gebete, dringen sie zu ihm durch? Warum schweigt Gott?

Oder die Zweifel kommen aus einer anderen Richtung: Es gibt in unserer Gesellschaft viele Religionen, viele Denk-richtungen, Ideologien und Sinnangebote. Daher taucht – vielleicht ähnlich wie damals bei den Hebräerchristen, die Frage auf: Ist Jesus wirklich der von Gott gesandte Retter? Ist er wahrhaftig von den Toten auferstanden oder ist das alles nur ein Mythos?

Ist er der Eine und Wahre, dem wir vertrauen sollen oder ist er nur einer unter vielen, nämlich unter den vielen Religionsstifter, die es in der Weltgeschichte gegeben hat?

Fragen, die auch unter Christen Zweifel schüren und für Verunsicherung sorgen.

Das Leben als Christ durchläuft manchmal Phasen der Anfechtung. Das Leben in der Nachfolge verläuft nicht geradlinig.

Jesus hat seinen Jüngern und der Gemeinde diesbezüglich jede Illusion genommen und immer wieder darauf hingewiesen: Nachfolge ist kein Spaziergang durchs Leben, der Glaube an ihn führt nicht notwendigerweise dazu, dass das Leben leichter oder gar angenehmer wird. Zweifel sind die Begleiter des Glaubenslebens, über manche Wegstrecken ist der Glaube ein innerer Kampf.

 

Der Blick zurück

Die Frage, vor der wir nun stehen, ist: Wie kann ich als Christ neuen Glaubensmut fassen, wenn ich glaubensmüde geworden bin? Wie gelange ich zu neuer Glaubenszuversicht, wenn der Boden wegerodiert, auf dem mein Glaubensleben steht?

Der Verfasser des Hebräerbriefes schreibt: „Werft euer Vertrauen nicht weg. Erinnert euch an die Zeit, als ihr zum Glauben gefunden habt! Schaut zurück auf die Anfänge eures Glaubens. Erinnert euch, warum ihr Jesus Christus als euren Herrn im Leben erkannt habt. Was hat euch in der Lebenssituation damals motiviert, euer Leben auf Jesus Christus auszurichten?“

Liebe Gemeinde, so wie wir Nahrung für den Körper brauchen, so benötigen wir auch Nahrung für unsere Seele und für unser Glaubensleben. Unsere Motive müssen ernährt werden, sonst vergessen wir, warum wir uns auf den Weg der Nachfolge gemacht haben. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, was Gott im eigenen Leben und in der Geschichte des Glaubens bereits geschenkt hat. Es braucht den Blick zurück:

Gab es da vielleicht doch Momente in meinem Leben, wo ich seine Gegenwart deutlich gespürt habe? Habe ich gebetet und Genesung oder Bewahrung erlebt und habe ich das schlichtweg vergessen? Erkenne ich, wenn ich mein Glaubensleben Revue passieren lasse, vielleicht doch: Ja, der Glaube hat mir Halt gegeben, er hat mir Orientierung gegeben. Durch den Glauben hat Gott mir zu Einsichten auf meiner Suche nach Sinn und Orientierung verholfen, die ich ohne Glauben nicht gehabt hätte. „Werft euer Vertrauen nicht weg. Erinnert euch an die Zeit, als ihr zum Glauben gefunden habt! Schaut zurück auf die Anfänge eures Glaubens.“ So die Ermutigung aus dem Hebräerbrief.

Der Hebräerbrief gibt uns an anderer Stelle den Tipp, auf das Leben und den Glauben anderer Christen zu sehen, die vor uns gelebt haben. Auf Menschen, die Gott zu einem besonderen Wirken für seine Gemeinde berufen hat. Aber wo wir uns zugleich in Erinnerung rufen dürfen: Keiner dieser Menschen war fehlerfrei, keiner war ein Held oder Superstar, jeder hatte seine Zweifel, Ängste, Rückschläge, jeder hatte Täler im Glaubensleben zu durchschreiten. Gerade deswegen lohnt der Blick auf ihre Biographie.

Denken wir etwa an Paulus. Er hat auf seinen Missionsreisen gewaltige Strapazen auf sich genommen, Rückschläge bei der Verkündigung des Evangeliums erlebt. Er wurde mehrere Male gefangen gesetzt, gesteinigt und schließlich in Ketten nach Rom gebracht. Paulus hat Gemeinden gegründet, und musste ein paar Jahre später feststellen, dass da und dort die Gemeindemitglieder müde geworden sind, dass sich manche wieder verabschiedet haben und weggeblieben sind. Er hat jedenfalls erlebt, dass die Nachfolge Jesu mit Kosten, Mühen, Anstrengung, Entbehrungen und unbeantworteten Fragen verbunden ist. Sich selber hat er als schwach erlebt. Im Korintherbrief erzählt er, dass er Gott darum gebeten hätte, den Stachel aus seinem Fleisch zu entfernen. Vielleicht hat er an einer körperlichen Krankheit gelitten, vielleicht an einer Depression. „Dreimal habe ich zum Herrn gebetet, dass er mich davon befreie. Jedes Mal sagte er: »Meine Gnade ist alles, was du brauchst. Meine Kraft zeigt sich in deiner Schwäche.« Sein Gebet blieb jedenfalls unerhört. Er hat dennoch an Christus festgehalten.

Denken wir an Martin Luther. Das Bild, das wir von ihm haben: Der streitbare Theologe, der Bibelübersetzer und große Reformator, der mit seiner Rechtfertigungslehre den Menschen ein neues Bild vom Gott der Bibel weitergab. Aber es gab auch Seiten, die nicht so bekannt sind. Im Sommer 1527 musste der Reformator eine Phase heftiger Depressionen durchstehen, Kreislaufbeschwerden kamen hinzu. Es war die Zeit nach den Bauernkriegen, nach dem Streit mit Erasmus von Rotterdam, die Zeit des Ringens um das Abendmahl mit den Schweizer Reformatoren, zudem herrschte in Wittenberg die Pest. In einem Brief an Melanchthon schreibt Luther am 2. August 1527: „Ich bin mehr als die ganze Woche so im Tod und in der Hölle hin- und hergeworfen worden, dass ich jetzt noch am ganzen Körper mitgenommen bin und an allen Gliedern zittere. Ich habe fast Christus ganz verloren und wurde von den Fluten und Stürmen der Verzweiflung und der Gotteslästerung geschüttelt. Aber von den Gebeten der gläubigen Freunde bewegt, hat Gott begonnen, sich meiner zu erbarmen und hat meine Seele aus der tiefsten Hölle herausgerissen. Lass auch du nicht ab, für mich zu beten, wie auch ich für dich. Ich glaube, dass mein Ringen auch anderen dient”. Martin Luther, nicht nur der große Reformator, sondern auch der Verzweifelte und Angefochtene.

Liebe Gemeinde, wenn wir auf Einzelheiten in der Biographie von sogenannten Glaubensvorbildern schauen, dann erkennen wir: auch bei den scheinbar ganz Großen in der Kirchengeschichte ist die Nachfolge kein geebneter Weg gewesen. Zweifel, Anfechtung, unbeantwortete Fragen und nicht erhörte Gebete – das hat es im Glaubensleben auch solcher Leute gegeben, die der Nachwelt als besondere Christen in Erinnerung sind. Aber die Erkenntnis, dass es sogenannten Glaubensvorbildern vielfach so ergangen ist wie einem selbst, kann entlasten, trösten und auch motivieren. Diese Erkenntnis kann unserem Glauben helfen, mit unbeantworteten Fragen besser zurecht zu kommen oder Gottes scheinbares Schweigen besser auszuhalten.

 

Der Blick nach vorne

Liebe Gemeinde, nicht nur der Blick zurück in die persönliche Glaubensbiographie oder die Kirchengeschichte ist wichtig, sondern auch der Blick nach vorne, der Blick in Richtung Zukunft.

Dazu möchte ich eine Begebenheit wiedergeben, die ein Pastor in einem christlichen Magazin erzählt: „Vor einigen Monaten: Vor mir saß ein verzweifelter, gebrochener Mann. Seine Frau war vor Kurzem gestorben. Von heute auf morgen. Eine engagierte, überzeugte Christin. Zwei Kinder im Schulalter hatten ihre Mutter verloren, ein Mann seine geliebte Frau, Wir weinten gemeinsam und verstanden Gott nicht. Warum lässt er so etwas zu? Was soll das? Ist Gott vertrauenswürdig? Und dann spielten wir die Frage durch: Wie könnte es weitergehen, wenn der so von Gott Enttäuschte sein Glauben verliert und den Weg ohne geht – ohne Gott, ohne die Gemeinschaft der Gemeinde. Wie könnte ein Leben ohne Glauben aussehen? Was wäre, wenn es Gott nicht gäbe? Kann man nach so einem Schicksalsschlag überhaupt ein gläubiger Mensch bleiben? Was ist die Alternative zu Jesus? Wir entwarfen Szenarien eines künftigen Lebens ohne Glauben. Das Fazit unserer atheistischen Fantasiereise war einfach nur deprimierend. Ich höre noch die Worte des jungen Witwers: „Es gibt keine Alternative! Egal, was passiert ist, eine Zukunft ohne Jesus Christus lässt alles dunkel werden. Ohne Glauben gibt es für mich überhaupt keinen Sinn und kein Ziel.“

Was ist die Alternative zu Jesus? In der Schriftlesung haben wir gehört, dass Petrus mit dieser Frage konfrontiert geantwortet hat: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der bist, der uns zum Vater führt. Darum motiviert uns der Schreiber, den Blick nach vorne zu richten, die Zukunft im Blick zu haben und auch das, was uns erwartet. „Werft das Vertrauen auf den Herrn nicht weg, was immer auch geschieht, sondern denkt an Lohn, der mit einem Leben mit Jesus Christus verbunden ist!“ Ja, es gibt einen Lohn der Nachfolge. Der Lohn, von dem der Text spricht, ist nicht menschliches Verdienst, ist nicht Abgeltung für erbrachte Leistung, sondern er ist Gottes Geschenk an uns Menschen. Das ewige Leben in Gottes neuer Welt, in der Gott alle Tränen abwischen wird und der Lärm und das Geschrei aus dieser irdischen Welt verklungen sein wird – dieses Leben ist Gottes Gabe in Christus.

Vor 2000 Jahren geschrieben, bleiben die mahnenden und zugleich ermutigenden Worte des Briefverfassers aktuell: Werft den Glauben nicht weg! Seid standhaft, auch wenn euer Glaube durch schwierige Fragen herausgefordert wird. Der Glaube ist auf manchen Wegstrecken ein innerer Kampf, eine zweifelnde Unruhe, ein fragendes Suchen, ein angefochtenes Ringen. Kaum einem Christen bleibt diese Erfahrung erspart, vielen geht es ähnlich, auch den scheinbar ganz Großen der Kirchengeschichte.

Aber der Blick nach vorne eröffnet einen weiten Horizont, denn als Christ darf ich wissen: Mein Leben in der Nachfolge Jesu hat eine Zukunft, mein Glaube steht unter einer Verheißung: Ich werde dort angekommen, wohin Jesus Christus uns vorausgegangen ist. Ich darf einmal in Gottes unmittelbarer Gegenwart leben.

Amen.